1990

Erstürmung der MfS-Zentrale in Berlin +++ Konservative „Allianz für Deutschland“ gewinnt Volkskammerwahl +++ Karl-Marx-Stadt wird wieder Chemnitz +++ Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik +++ Die DM wird Zahlungsmittel in der DDR +++ Zwei-plus-vier-Vertrag mit den Alliierten über äußere Aspekte der deutsch-deutschen Vereinigung +++ Beitritt der DDR zur Bundesrepublik +++ Privatisierung volkseigener Betriebe durch die Treuhand.

West-Gastspiele von DDR-Folkbands (Auswahl): Fiddler’s Grien in Kiel, Bremen und Lübeck sowie in Südfrankreich, Saitensprung in Friedewald (BRD), Tanz & Spring Band in Erlangen und Hannover, Hofgesindt in Frankfurt am Main, Kantholz in Walkershofen (BRD), Ziegelsteins Musikanten bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, Folkskammer in Strasbourg (Frankreich), JAMS in Hallein (Österreich), Spilwut in Falun (Schweden), Leipzig Morris in England, Bumfidl mit Tanzgruppe Zucker und Zimt in der Toskana, Folkländers Bierfiedler mit Tanzgruppe Kreuz & Square in Nordirland, Stieger Walzmusikanten in Brasilien, Peru, der Schweiz und den Niederlanden, Windbeutel in den USA.

Schallplatten: „Zahraj nam rejku. Sorbische Folklore mit Sprjewjan“, AMIGA 8 45 373.

Das letzte DDR-Jahr zwischen Wende und deutsch-deutscher Vereinigung bringt auch für die Folkszene einschneidende Veränderungen: keine –>Auftrittsverbote mehr, keine Eiertänze mehr um –>Druckgenehmigungen für –>Liederhefte oder Plakate. Zugleich werden die –>gesellschaftlichen Träger reihenweise abgewickelt.

Folkfestivals im „westlichen Ausland“ rücken in erreichbare Nähe – „Mit dem Trabant nach Frankreich!“ („Folkblatt“ Nr. 5/1990). Doch zu Hause bricht die Infrastruktur weg. Klubs und Kulturhäuser sagen Veranstaltungen ab, weil ihnen nach der DM-Einführung die Konten gesperrt worden sind, andere müssen ganz schließen. So gibt es schon im Januar 1990 für die fünf Leipziger Volkstanz-Bands kein Haus mehr, wo sie regelmäßig spielen könnten.

Das Ende der Restriktionen bei Reise- oder Meinungsfreiheit nimmt den gern gesungenen historischen Volksliedern ihren „doppelten Boden“. Eine Ersatzöffentlichkeit ist nun nicht mehr nötig. Die Fähigkeit des Ganz-genau-Zuhörens und Zwischen-den-Zeilen-Lesens erübrigt sich. Ein Großteil des Publikums geht verloren. Auch die Musiker selbst müssen sich um Wichtigeres kümmern als um das Hobby Folkmusik (nur rund ein Zehntel der Bands sind Profis): um Arbeitsplatz oder Studium, Steuererklärung, Mietverhältnis, Krankenversicherung usw.


Januar 1990

Plauen. Gründung des Vereins Autonomes Kulturzentrum Malzhaus. Besetzung der Veranstaltungsräume des traditionsreichen Jugendklubs. Ab März gibt es wieder einen regelmäßigen Veranstaltungs- und Cafébetrieb. Als Gastgeber des jährlichen Festivals Plauener Folkherbst ab 1992 avanciert das Malzhaus zu einem wichtigen Folkklub in Deutschland.

Berlin. 4. Tage der jiddischen Kultur. Auf der Bühne u. a. Jalda Rebling, Aufwind, das Duo Karsten Troyke/Jenny Kühn. Gastspiele geben das Bukarester Jüdische Staatstheater, das Warschauer Jiddische Theater und das jiddische Ensemble Fayerlech aus Vilnius. Aaron Saltiel aus Graz singt sephardische Lieder.


Februar 1990

Berlin. 20. Festival des politischen Liedes, kleiner, bescheidener, ohne FDJ und die „Protokollveranstaltungen“ mit SED-Prominenz, mit weit weniger Geld, aber nicht weniger Enthusiasmus des ehrenamtlichen Festivalteams. Gründung des Fördervereins für ein progressives Kulturfestival in Berlin. Auf der Bühne u. a. Duo Sonnenschirm und JAMS.

Schwerin. Gründung eines Folkklubs durch Mitglieder von Tüdderkram (ehemals Wismar) und befreundete Musiker.

Neubrandenburg. Anstelle der geplanten Folkwerkstatt unter dem Motto „Zusammenspiel von Bordun-Instrumenten mit anderen Instrumenten“ stehen existenzielle Fragen auf der Tagesordnung. Die ZAG Musikfolklore wird aufgelöst. Gegründet wird ein DDR-Verband der Folkloristen (mit Sitz in Leipzig). 33 von 100 eingeladenen Bands treten bei, darunter Dickband, Fiddler’s Grien, Folkskammer, Fußfolk, Hofgesindt, Kantholz, Nach der Arbeit, Rumpelstolz, Schwenkhops, Tonkrug, Windbeutel und Ziegelsteins Musikanten. Der Verband soll das Vakuum füllen, das durch die absehbare Abwicklung staatlich finanzierter Kulturkabinette, Folklorezentren usw. entsteht. Angestrebt werden eigene Publikationen und Veranstaltungen, Erfahrungsaustausch zwischen den Bands, Mitsprache in den Massenmedien, Einflussnahme auf Kultur- und Bildungskonzepte, Wahrung von Urheber- und Leistungsschutzrechten. Ein langes Leben ist dem Verband nicht beschieden. Die meisten ostdeutschen Bands, sofern sie nach 1990 weiterbestehen, entscheiden sich für Profolk, den Verband des westdeutschen Folk-Revivals, oder für gar keinen Verein.


Mai 1990

Leipzig. 5. internationales Tanzhausfest unter dem Slogan „Wir sind das Folk!“. Zu Gast sind u. a. Le P’tit Blanc (Frankreich), Orientexpressen (Schweden) und Kolorit (Ukraine). Im Mittelpunkt stehen Reihen- und Kettentänze aus Osteuropa und Israel.

Leipzig. Gründung des Labels Lœwenzahn durch die drei Folkmusiker Uli Doberenz, Peter Uhlmann und Jürgen B. Wolff. Hier erscheinen vor allem Tonträger aus dem Bereich Lied, Folk un Weltmusik.


Juni 1990

Leipzig. 2. Leipziger Straßenmusikfestival. Es soll an das von der Polizei aufgelöste Festival im Juni 1989 erinnern. Bis 1997 findet es jährlich im Mai oder Juni statt, organisiert vom Verein Straßenmusik e.V., der von 1992 bis 1997 auch das „Folkblatt“ herausgibt, bevor das mit dem westdeutschen „Folk-Michel“ zum „FOLKER“ fusioniert.


Juli 1990

Münster. Erstes (und letztes) deutsch-deutsches Bundesvolkstanztreffen, veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Volkstanz e.V. Die turnusmäßige altbundesdeutsche Veranstaltung wird bereichert durch die ganz anders gewachsene Folkstanz-Szene aus der DDR, ca. 300 Besucher, Swedenquell spielt zum offenen Tanz vor der Halle, in der die westdeutschen Gruppen ihren „Tanzplan“ absolvieren. Die Tänzer aus dem Westen sind meist älter, kommen vom Land und tragen Trachten, die aus dem Osten sind jung, aus der Stadt und können mit Trachten nichts anfangen. Dennoch ist das Treffen von gegenseitiger Toleranz und Neugier geprägt.


November 1990

Rostock. „Wir sind das Folk“ – unter diesem Motto organisieren Fiddler’s Grien, Eikboom und Fußfolk einen Erfahrungsaustausch anstelle der nun abgeschafften staatlichen Folk- bzw. Singewerkstatt. Acht Bands aus Rostock sind bei der Premiere des Festivals dabei, mit Session und Folkstanz. Daraus entwickelt sich der jährliche Treffpunkt der dortigen Folkszene. Bis 2007 finden die Festivals statt, insgesamt treten rund 170 Gruppen auf.

Bad Hersfeld (Hessen). Vertreter der Folkszenen aus Ost- und Westdeutschland beraten über die künftige Zusammenarbeit. Profolk als Verband der West-Folkies erhofft sich eine „Frischzellenkur“ aus dem Osten („Folk-Michel“ Nr. 1/1991) und bekommt sie auch. Wichtigstes Ergebnis ist die Entscheidung für ein internationales Folk- und Weltmusik-Festival, das dann im Juli 1991 im thüringischen Rudolstadt von einem gemischten Ost-West-Team erstmals realisiert wird. Festivaldirektor wird Ulrich Doberenz, Chef des Folkklubs Leipzig, künstlerischer Leiter Bernhard Hanneken, Chefredakteur des „Folk-Michel“. „Zeit“-Kolumnist Christoph Dieckmann wird das Tanz- und Folkfest später das „schönste Kind der deutschen Einheit“ nennen.