Folk in Thüringen - früher und heute | 31.10.23

Rudolstadt liegt in Thüringen. Seit 1920, als das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt in dem damals neugebildeten Land aufging. Und wieder seit 1990, als das heutige Bundesland gegründet wurde. Von 1952 bis zum Ende der DDR gab es stattdessen die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl. Und diese spielten seit den 1970er Jahren eine wichtige Rolle für die ostdeutsche Folkszene. Das erklärt, weshalb heute in Thüringen so viele Bands aktiv sind und so attraktive Festivals und Workshops stattfinden. Im Folgenden ein (unvollständiger) Überblick über die thüringische Folklandschaft vor und nach 1990.

Bordun aus Berlin 1980 beim Erfurter Krämerbrückenfest (Foto: Stefan Gööck)
Beim Erfurter Krämerbrückenfest gastiert 1980 das Trio Bordun aus Berlin 1980 (Foto: Stefan Gööck)

Braves Bühnen-Tanzfest wird Weltmusikfestival

Deutschlands größtes Festival für Folk und Weltmusik lockt seit 1991 jedes Jahr Tausende Besucher nach Rudolstadt (nur unterbrochen durch die Corona-Pandemie). Ulrich Doberenz, Festivaldirektor von 1991 bis 2017, gehörte zur Gründergeneration des ostdeutschen Folk-Revivals. Bands aus der Szene etablierten 1983 den Mitmachtanz beim DDR-Tanzfest in Rudolstadt, bis dahin war es dem Bühnentanz vorbehalten. 1984 tingelten Folkbands aus Erfurt und Leipzig erstmals mit Pferdewagen über die Dörfer rund um Rudolstadt. Beides, der Mitmachtanz und diese Folkloretour, waren Keimzellen des heutigen Festivals, das 1991, im Jahr nach dem Beitritt zur Bundesrepublik mit einem Ost-West-Festivalteam startete und bald international einen Namen machte.

Traditionsreiche Folktage und ruhiges Hinterland

Auch Ilmenau war in zweifacher Hinsicht wichtig für die Szene. Zum einen durch die seit 1978 dort veranstalteten Folktage. Eine längere Tradition haben nur zwei Festivals in Deutschland - das Eurofolk Festival in Ingelheim (Rheinland-Pfalz, seit 1972) und das Folktreffen auf dem Scheersberg (Schleswig-Holstein, seit 1975). Zum anderen verlegte Mitte der 1980er Jahre das Zentralhaus für Kulturarbeit die jährlichen zentralen DDR-Folk-Werkstätten vom politisch schwer beherrschbaren Leipzig ins ruhigere Ilmenau. Dort fanden sie 1985, 1987, 1988 und letztmalig 1989 statt. Die Imenauer Band Folksmund existiert nicht mehr, dagegen ist Feuertanz nach wie vor aktiv, geht zum Beispiel jedes Jahr zusammen mit einem Puppenspieler auf Planwagentour und organisiert die Folktage. Auch die 1986 in Ilmenau gegründete Volkstanzband Ilmfidelhupf spielt bis heute.

Planwagen-Tour von Feuertanz aus Ilmenau mit einem "Eulenspiegel-Stück" 2020 (Foto: Wolfgang Leyn)
Planwagen-Tour von Feuertanz aus Ilmenau mit einem "Eulenspiegel-Stück" 2020 (Foto: Wolfgang Leyn)

Folk-Hochburg seit Mitte der 70er

Erfurt war neben Leipzig und Berlin eine der Hochburgen der Szene. Im Juli 1976 traten beim Erfurter Krämerbrückenfest Bands aus den drei Städten erstmals gemeinsam öffentlich auf. Die Gruppen Brummtopf und Saitensprung organisierten in Erfurt Festivals, brachten gemeinsam Liederhefte heraus, spielten zum Volkstanz. Bis heute findet in Erfurt jeden Monat ein Folkstammtisch statt. Ähnliches gibt es nur sehr selten in Deutschland. Seit 1991 spielt Spätlese aus (Mihla an der Werra Folkmusik aus verschiedenen Ländern Europas, u. a. mit Drehleier, Dudelsack und Nyckelharpa. „Folktanzmusik und fröhlich gesungenes Liedgut“ ist seit 2008 das Markenzeichen der Band Frösi. Im selben Jahr gründete sich in Erfurt auch die String-Company mit einem musikalischen Quer-Beet-Repertoire. Klezmer-Musik spielen in Erfurt Misrach und Eva's Gartn. 2015 wurde in Erfurt ein Klezmer-Orchester mit Amateur- und Profimusikern aus ganz Deutschland gegründet. Das Rittergut Lützensömmern, 30 km nördlich von Erfurt, lud im Februar 2023 zum siebenten Irish Folk Workshop ein. 2017 hatte im Forsthaus Willrode bei Erfurt das Festival „Wipfelrauschen“ Premiere.

Liederheft von Brummtopf und Saitensprung, erschienen 1984
Liederheft von Brummtopf und Saitensprung, erschienen 1984 (Sammlung Leyn)

Ehrliche Lieder und Volkskunstschau

In Gera war seit 1978 Liedehrlich zu Hause. Das Trio war neben Folkländer in Leipzig, Wacholder in Cottbus oder JAMS in Ostberlin eine der prägenden Folkbands des Landes. Später ging aus der Band der Liedermacher Stephan Krawczyk hervor. Traditionelle und neue Tanzmusik aus Europa zum Mittanzen spielt seit 2013 in Gera die Dansa Banda. In Schmalkalden wurde1978 bei den Arbeiterfestspielen, jener DDR-weiten Leistungsschau des „Volkskunstschaffens“, erstmals ein Folklorefestival veranstaltet. Auch wenn die Bands der damals noch jungen DDR-Folkszene bei diesem Festival eher am Rande beteiligt waren, hatten sie dort so viel Öffentlichkeit wie bis dahin noch nie. In Neustadt/Orla spielt die Gruppe Eulenspiegel seit 1980 Lieder und Tanzmusik mit alten Instrumenten.

Liedehrlich, Anfang 80er Jahre (Foto: Stefan Gööck)
Liedehrlich, Anfang 80er Jahre, rechts im Bild Stephan Krawczyk (Foto: Stefan Gööck)

Tanzvergnügen von acht bis achtzig

In der Gemeinde Benshausen bei Zella-Mehlis im Landkreis Schmalkalden-Meiningen gründete Eva Sollich 1977 ihr Tanzhaus. Über 20 Jahre tanzten dort unter ihrer Anleitung Dorfkinder gemeinsam mit ihren Eltern und Großeltern Volkstänze der Region. Ab 1980 entwickelte sich der Mitmach-Volkstanz allmählich zum Mainstream der DDR-Folkszene. Für die Tanzmeister-Ausbildung wurde die erfahrene Tanzpädagogin gewonnen. Sie bildete dann in Benshausen jene aus, die dem tanzwilligen Folkpublikum erklären und zeigen konnten, wie's geht. Das Tanzhaus des Dorfes besteht unter neuer Leitung bis heute.

Tanzmeister-Ausbildung 1983 in Benshausen (Foto: Sammlung Römer)
Tanzmeister-Ausbildung 1983 in Benshausen (Foto: Sammlung Römer)

Flößerlied und Szene-Repertoire

In Neuhaus am Rennweg, seinerzeit der höchstgelegenen Kreisstadt der DDR, begeisterte der Musiklehrer, Chorleiter und Volksmusikforscher Horst Traut seit 1967 viele Schülergenerationen für Volkslieder. 1975 gründete er eine Folkloregruppe (später Kantholz). Das fränkische Lied „Lustig is dos Flößerlaam“ wurde durch sie ein Hit der DDR-Folkszene. 1995 verfasste Traut das erste Liederbuch mit dem Repertoire beider deutscher Folkszenen.

Yiddish Summer und Earlymusicfolk

Zu dieser Zeit wurde Horst Trauts Arbeitsstelle, das Institut für Volksmusikforschung in Weimar, gerade abgewickelt. Seit 1982 musiziert in der Klassikerstadt die Band Hofgesindt, wenig später kam das Duo Liedfass hinzu. Seit 1997 sind in Weimar Fork and Fiddle aktiv. 2000 fand in der Stadt erstmals der Yiddish Summer statt, mittlerweile eines der renommiertesten Festivals für jiddische Musik und Kultur weltweit. Earlymusicfolk spielen seit 2001 The Playfords. Ebendiese Musik steht seit 2011 im Mittelpunkt des Playground Festivals. Neue deutsche Weltmusik bringt ab 2014 Sammant auf die Bühne, 2Bfolkish! lautet das Motto eines Weimarer Irish-Folk-Duos. Tuba Libre spielt seit 2010 in Weimar fetzige Blasmusik quer durch den Gemüsegarten. 2018 entstand die Familien-Folkband Lottes Flausen.

Junge Teilnehmende bei einem Workshop des Yiddish Summer Weimar (Foto: Shendl Copitman)
Bei einem Workshop des Yiddish Summer Weimar (Foto: Shendl Copitman)

Folktanz, Weltmusikkapelle, Waldzither

Ab 1978 bestand in Jena die Gruppe Liedlai'n (bis zu Reinhard Wulferts Verhaftung durch die Stasi 1983). 1982 wurde hier die Band Saitenwind gegründet, die anfangs auch mit der Tanzgruppe Zucker und Zimt auftrat, ehe sie dabei vom Musikerhäuflein Schillebold abgelöst wurde. Penny Portion spielte Folk aus Irland und Schottland, woran später die Publiners anknüpfen konnten. Seit 1993 spielt in Jena auch Flaxmill Irish Folk. Hora Est lädt zum Bal Fol mit Balkan-Schwerpunkt. Unart-Tick erfreut das Publikum mit „rhythmischem Folk nicht nur vergangener Jahrhunderte“. Ohne die lebendige und vielfältige Szene in Jena wäre es 2008 nicht zur Gründung der zwölfköpfigen sinfonischen Weltmusikkapelle namens Folkdestille gekommen. Einer ihrer Initiatoren war Tim Liebert alias Doc Fritz, der 2013 im Rahmen des Waldzither-Symposiums in Suhl die Folkband Hüsch mitbegründete. Diese wiederum war Gastgeberin des ersten und sehr erfolgreichen Deutschfolk-Festivals im September 2021 in Jena und dem einzigartigen AmViehTheater im Dörfchen Beulbar bei Bürgel.

Die Band Hüsch! aus Jena, rechts Tim Liebert (Foto: Pressebild)
Die Band Hüsch! aus Jena, rechts Tim Liebert (Pressefoto)