Matthias „Kies“ Kießling ist tot | 25.10.2021

Matthias Kießling gehörte zu den prägenden Figuren der Ostfolkszene. 1978 gründete er als Student gemeinsam mit Kommilitonen in Cottbus die Gruppe Wacholder, eine der bekanntesten deutschen Folkbands. Nach 1990 trat er mit eigenen Liedern auf und musizierte außerdem in deutsch-irischen Formationen wie Norland Wind. Am 24. Oktober ist der Sänger, Musiker, Songschreiber und Komponist im Alter von erst 65 Jahren plötzlich und unerwartet gestorben.

Kies Anfang der 1980er-Jahre beim Folkfestival im Ostberliner Haus der jungen Talente, rechts daneben Jörg Kokott, beide bei Wacholder (Bild: Jürgen Hohmuth/zeitort)

Bauingenieur und Folksänger

Als Student gründete Matthias Kießling 1978 in Cottbus gemeinsam mit Scarlett Seeboldt, Jörg Kokott und weiteren Mitstreitern die Gruppe Wacholder. Bis zur Auflösung der Band 2001 hat „Kies“ als Sänger, Gitarrist, Keyboarder, Songschreiber und Komponist eine der bekanntesten deutschen Folkbands entscheidend mitgeprägt. Am 10. Mai 1956 in Steinheidel-Erlabrunn/Erzgebirge geboren und aufgewachsen in Johanngeorgenstadt, legte Kies im vogtländischen Plauen das Abitur ab, verbunden mit der Berufsausbildung als Baufacharbeiter. Dann ging er zum Studium an die Ingenieurhochschule für Bauwesen in Cottbus. Als Mitglied der Folkgruppe Wacholder absolvierte er parallel dazu ein Musikstudium am dortigen Konservatorium. Das war Voraussetzung dafür, dass er wie seine Bandkollegen 1981 den Berufsausweis als Folkmusiker bekam, die sogenannte Profi-Pappe. Wacholder trat bei allen wichtigen Folkfesten, Werkstätten und Festivals in der DDR auf, u. a. beim internationalen Festival des politischen Liedes in Ostberlin.

1982 wirkte die Gruppe gemeinsam mit dem Berliner Liedtheater Karls Enkel und dem Dresdner Chansonduo Dieter Beckert und Karl-Heinz Schulz (später Saleh) an der legendären „Hammer-Rehwü“ mit, einer Revue im Stile der 1920er-Jahre mit aktuellen Texten von Wenzel und Mensching. Mitten in die mehrwöchige DDR-Tournee fiel ein zeitweiliges Auftrittsverbot durch Cottbusser Funktionäre.

Konzeptprogramme, Schallplatten, Solokarriere

Matthias Kießling, 80er-Jahre
(Foto: Jürgen Hohmuth/zeitort)

1983-85 brachte Wacholder verschiedene Konzeptprogramme auf die Bühne – mit vertonten Heine-Gedichten, mit Liedern der Revolution von 1848 bzw. mit Texten von Tucholsky oder Mühsam. 1989 folgte das Programm „Alles zum Wohle des Folkes“. Danach konzentrierten sich Matthias Kießling, Scarlett Seeboldt und Jörg Kokott stärker auf ihre Soloprogramme, Kies vor allem mit selbstverfassten Texten. Später musizierte er außerdem in deutsch-irischen Formationen wie Norland Wind, dem Màire Breatnach Trio und Éist. Seit 1989 produzierte er im Studio Neubearbeitungen sorbischer Volkslieder für den Hörfunk. Es folgten eigene Kompositionen zu sorbischen Texten und das zweisprachige Bühnenprogramm "Na mósće - Auf der Brücke".

1983 und 1989 spielte Kies mit Wacholder zwei LPs ein, nach 1990 dann weitere vier CDs. Dazu kamen zahlreiche Sampler sowie Rundfunkproduktionen. Tourneen führten ihn nach Polen, in die Slowakei, die Ukraine, nach Bulgarien, Südtirol, Österreich, Irland und die USA.

Kies singt:

„Trotz alledem“ mit Wacholder und Dick Gaughan (Schottland), live beim Festival des politischen Liedes, Berlin (1985)
"Lustig, lustig, ihr lieben Brüder" mit Wacholder, von der LP „Es ist an der Zeit“ (1989)
"Es ist an der Zeit" (Eric Bogle, dt. Nachdichtung Hannes Wader) mit Wacholder von der LP "Es ist an der Zeit" (1989)
"Games People Play" mit Wacholder, live beim Tanz- und Folkfest Rudolstadt (1991)
"Ohne dich" mit Wacholder von der CD "In der Heimat ist es schön" (1994)
Wir ziehn durch fremdes Land von der CD "Unfolked" (2004)
Irish Folk Medley mit Máire Breatnach (vor 2007)
Irish Folk Medley mit Éist, live (2011)
„Wir haben im Feld gestanden“ von der CD „Helm ab zum Gebet!“ (2012)
Fiddler's Green, Irish Traditional, dt. Nachdichtung Matthias Kießling (2019)

Abschiedsworte

Scarlett Seeboldt (heutiger Künstlername Scarlett O') stand bei Wacholder lange Jahre mit Kies auf der Bühne:

"Mann Kies, Du warst von uns immer der, der alles sachte und dreimal wohl- und hin- und herüberlegt angegangen ist. Dein "gemach, gemach" hat mich regelmäßig auf die Palme gebracht. Wieso auf einmal, verdammt, diese Hektik. Damit hättest Du nun wirklich noch warten können, das ist eine sch... Überraschung. Mußtest Du es dem Fischer in Deinem "Fiddler's Green"-Text unbedingt so früh und eilig nachmachen?

Nimm mich mit, nimm mich mit auf die Reise,
Denn meine Zeit ist vorbei.
Ein letzter Schluck, Freunde,
Dann laßt mich gehn.
Wir sehn uns wieder
In Fiddlers Green.

Aber wenn schon, dann hab wenigstens ne richtig gute Reise, vielleicht kannst Du ja dort irgendwo Schneeschuh fahrn. Machs gut - wir sehn uns."

Jürgen B. Wolff, 1973 in Plauen Mitbegründer des "Clubs Malzhaus", ab 197 in Leipzig Bandchef von Folkländer:

"In meinem Dunstkreis tauchte Kies 1974 auf. In Plauen. Im Malzhaus. Es war die Ära der 'Blödelbarden': Roski, Schobert & Black, Insterburg & Co., Wader. Kies saß in der Ecke und übte den halben Abend lang Fingerpicking, um 'Viel zu schade für mich' und dergleichen Songs perfekt hinzukriegen. Bald war er der Mann, bei dem man sich von Wader was wünschen konnte. Im Malzhaus kursierten Bänder mit Folkmusik, hauptsächlich Irisches, und irgendwann erwischte die Welle auch ihn.

Jürgen und Kies um 1980
(Archiv Wolfgang Leyn)

1978, als Folkländer schon deutsch dilettierten, ätherte es, es gäbe da in Cottbus eine neue Folkband, die gar nicht schlecht sei. Kein Wunder – Frontmann war Kies. Er kam, wie wir alle, vom Folk nicht mehr los. In Ilmenau spielten wir erstmals auf einer Bühne, die nächsten Jahre traf man sich gefühlt jede Woche. Wacholder wurden – spätestens durch die 'Hammerrehwü' – eine Institution.

Kies, der Waldschrat aus Johanngeorgenstadt, der stets weniger gucken ließ als er geladen hatte, blieb, der er war. Einer, mit dem man spielen, singen, reden, rumalbern konnte, der sich nie Gestelztes antrainierte und zum Schluss noch genauso in genau denselben Bart muffelte wie vor 40 Jahren. Er blieb sich treu, sagt man von solchen Typen. Deren es gar nicht genug geben kann. Jetzt erst recht."

Thomas Klatt, Kulturjournalist für Lausitzer Rundschau:

"Diese Folkbewegung, die da ab Mitte der 70er-Jahre fast wie über Nacht in den meisten ostdeutschen Uni-Städten entstand, war etwas völlig Neues, etwas Eigenes, das es nur in der DDR gab. Die Neubearbeitung alter deutscher Volkslieder machte deren politischen Untertext auf die aktuelle Situation anwendbar. Kies und die Wacholder-Leute beherrschten dieses Doppeldeutige hervorragend. Dass dieses Jahrzehnt auch immer feucht-fröhlich war, versteht sich von selbst. Es waren, wie die Schriftstellerin Jutta Voigt schrieb, unsere „Stierblutjahre“. Seit jener Zeit hat Kies, was immer er auch tat, mein Leben begleitet. Ich bin traurig. Wir sehen uns wieder in Fiddlers Green."

Radio Berlin-Brandenburg - Sorbisches Programm:

"Eine traurige Nachricht, die wir in unserem Programm verkünden mussten: Die DDR-Folklegende, Musiker, Sänger, Komponist und Produzent Matthias Kießling ist am Sonntag (24.10.2021) im Alter von erst 65 Jahren plötzlich und unerwartet verstorben. Auch wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sorbischen Redaktion sind zutiefst erschüttert. Viel zu zeitig ist er von uns gegangen, meint auch unser Musik- und Kulturredakteur Gregor Kliem, und spricht im Namen der Redaktion Worte des Gedenkens. Auch der sorbische Schriftsteller und Publizist Jurij Koch hat lange Jahre mit "Kies" zusammengearbeitet, als Texter und Partner in Bühnenprogrammen. Er gedenkt des verstorbenen Freundes."

Wolfgang Leyn, Buchautor, Chefredakteur der Ostfolk-Website:

"Ich kannte Kies seit mehr als 40 Jahren. Ich habe ihn geschätzt und gemocht. Geschätzt als einen der besten Folkmusiker dieses Landes mit zu Herzen gehendem Gesang und exzellentem Gitarrespiel, gemocht als warmherzigen, geradlinigen, humorvollen Menschen. Ich hatte mich sehr auf das Wiedersehen beim ALTENHEIMSPIEL im Malzhaus Plauen gefreut. Nun bleibt nur die Erinnerung an einen viel zu früh Gegangenen."

Wacholder im Januar 1980 während der Zentralen DDR-Musikfolklorewerkstatt in Leipzig. Von links: Rainer-Christoph „Pascha“ Dietrich, Jörg „Ko“ Kokott, Matthias „Kies“ Kießling, Scarlett Seeboldt, Olaf Zimmermann (Foto Stefan Gööck)

Mai 2021: "Wie schön blüht uns der Maien", empfohlen von Matthias "Kies" Kießling (Ex-Wacholder)