Vom 29. bis zum 31. Oktober 1976 trafen sich in Leipzig zehn Gruppen und vier Solisten u. a. aus Berlin, Erfurt, Greifswald, Leipzig, Potsdam und Dorfchemnitz zu einem Werkstatt-Wochenende. Eingeladen hatten die Folkländer in den Studentenklub der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Das war die Geburtsstunde einer eigenständigen DDR-Folkszene.
Außer den beiden Diskussionsrunden waren die Veranstaltungen der Werkstatt öffentlich – und alle ausverkauft. 600 Besucher füllten während der Abendkonzerte mit anschließender Session den Grafikkeller. Der Einladung gefolgt waren auch zwei Musikwissenschaftler aus Berlin und Weimar. Gespielt wurde zu vier Fünfteln internationale Folklore. Zwar erklang auch das eine oder andere deutsche Volkslied, abgekupfert von bundesdeutschen Folk-Schallplatten, vor allem aber Irish Folk. Das Revival in Irland beflügelte seinerzeit junge Musiker in vielen Ländern Europas, darunter auch in der BRD und in der DDR.
"Wir fühlten uns bestätigt"
An diesem Wochenende im Leipziger Grafikkeller konstituierte sich die ostdeutsche Folkszene. Noch auf der Suche nach einem eigenen Profil, präsentierte sie sich durchaus selbstbewusst der Öffentlichkeit. Reiner Luber (1949-2011) von Brummtopf aus Erfurt über die 1976er Folkwerkstatt in Leipzig:
"Ich glaube, ein Großteil der Leute hat sich dort überhaupt erst kennengelernt. Das war eine phantastische Atmosphäre da im Grafikkeller. Wir fühlten uns bestätigt, dass wir eine Richtung verfolgt haben, in der auch andere unterwegs waren. Wichtig war die Möglichkeit, sich auszutauschen über Instrumente, über Spielweisen, über Techniken. Es hat dort viele Anregungen gegeben. Und in der Folge wurden auch neue Gruppen gegründet".
Zum Beispiel 1978 in Cottbus die Gruppe Wacholder. Deren Mitbegründer und Bandchef Matthias Kießling (1956-2021) erlebte die Werkstatt im Oktober 1976 noch nicht als Mitmusizierender, sondern als Besucher:
„Ich erinnere mich noch gut, dass ich damals in Leipzig nicht nur die ersten Folkbands gehört habe, sondern auch zum ersten Mal die ‚Volkssänger‘-Platte von Hannes Wader, wo ich zum ersten Mal damit in Berührung kam, dass deutsches Volkslied noch was anderes ist als Dirndl und Verkleiden. Das hat mich damals außerordentlich beeindruckt.“
Uli Sachse aus Berlin erinnerte sich vor allem an die Jam Sessions im Anschluss an die abendlichen Konzerte:
„Das ist eigentlich bei jeder Art Musik die Krönung, wenn nicht die einzelnen Gruppen spielen, sondern man kann mitmachen, mit dem Instrument, was man hat, oder sich eins ausleihen.“
Etwas Neues begann
An diesem Wochenende gab es wenig Schlaf, dafür viel Musik und gemeinsamen Gesang, mit einer Menge Bier und Qualm von Zigaretten der Billigsorte "Karo". Die Stimmung war geradezu euphorisch. Wohl alle Beteiligten vor und auf der Bühne spürten, dass hier etwas Neues begann, dass Volkslieder auch ganz anders klingen können, als man es von Chören, Kunstliedsängern oder den DDR-Volkskunst-Ensembles gewohnt war – lebendiger, frischer, urwüchsiger. Und dass das Singen und Musizieren einen Riesenspaß macht, erst recht zusammen mit Gleichgesinnten.
Die Gruppen, die an der Werkstatt teilnahmen, verständigten sich über ihr Anliegen, den Umgang mit Behörden und Institutionen, verabredeten weitere Schritte, darunter die stärkere Hinwendung zum deutschen Volkslied. Wenig später gründeten sie ein Folklore-Initiativkomitee (FINK). Das sollte ihre Interessen gegenüber den Behörden vertreten und im Mai 1977 in Berlin eine zweite Werkstatt organisieren. Die fand auch statt, doch wurde das FINK bald darauf vom DDR-Kulturministerium zur Selbstauflösung genötigt. Basisdemokratie passte nicht zum "vormundschaftlichen Staat".
Bilder von der ersten DDR_Folkwerkstatt
Ostfolk im Gespräch - Folge 1: Singeklubs, Werkstätten und erstes Zusammenfinden
Wie in Leipzig die DDR-Folkszene begann | MDR KULTUR | 19.08.21