Gedanken zum 20. Todestag von Erich Stockmann | 26.11.23

Erich Stockmann beim Scheersbergtreffen, rechts Jörg Geschke, damals Vorsitzender der LAG Folk und Organisator des Treffens
Erich Stockmann 1998 beim Scheersbergtreffen, rechts Jörg Geschke, damals Vorsitzender der LAG Folk und Organisator des Treffens (Foto: LAG)

„Für einen Volksmusikforscher wie mich bedeutet es die wohl größte Freude, die Lieder, die man aus dem Staub der Archive in vielen einsamen Stunden herausgesucht hat, nun wieder von jungen Menschen singen zu hören.“

Prof. Erich Stockmann Pfingsten 1999 in seiner Rede beim Scheersberg-Treffen in Schleswig-Holstein (der ganze Text unten als Download).

Renommierter Musikethnologe und wichtiger Verbündeter der Folkszene

Stockmann wurde 1926 in Stendal/Altmark geboren. Am 16. November 2003 ist er in Berlin gestorben. 1946–52 studierte er in Greifswald und Berlin Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte. Danach wurde er Assistent am Institut für Deutsche Volkskunde der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, das damals von Wolfgang Steinitz geleitet wurde. Ab 1957 hielt Stockmann Vorlesungen an der Humboldt-Universität, vor allem zur Musikethnologie und Musikinstrumentenkunde.

Seit den 1960er Jahren engagierte er sich im Rahmen der UNESCO für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. 1962 gründete er dort im International Folk Music Council eine Studiengruppe für Volksmusikinstrumente. 1964 wurde Stockmann auf Vorschlag des ungarischen Komponisten und Volksliedforschers Zoltán Kodály zum Vorstandsmitglied des International Folk Music Council gewählt. 1982 wurde er dessen Nachfolger als Präsident. Der international renommierte Musikethnologe war ein Brückenbauer zwischen den Forschern aus Ost und West, was ihm durch den Kalten Krieg und auch durch die DDR-Behörden nicht leicht gemacht wurde.

Zur Verbreitung musikwissenschaftlicher Erkenntnisse nutzte er Vorlesungen und wissenschaftliche Konferenzen, aber auch immer wieder das Medium Radio. Zugleich war Erich Stockmann ein Ideengeber, kritischer Begleiter und wichtiger Verbündeter der Folkszene in der DDR.

Jo Meyer, Berliner Musikjournalist und Musiker (JAMS-Tanzhaus, POLKAHOLIX), erinnert an seinen Lehrer und väterlichen Freund:

Horizontweitung in den engen Grenzen der 80er Jahre und lange danach

Erich Stockmann 2002 im Garten von Gabi und Jo Meyer (Foto: privat)
Erich Stockmann 2002 im Garten von Gabi und Jo Meyer (Foto: privat)

Direkt über meinem Schreibtisch hängt ein Foto von Erich Stockmann. Er sitzt in unserem Garten und erfreut sich an einem Glas Weißwein. Ja, er war auch ein Genussmensch. Nahezu diebische Freude machte es ihm, mir als mecklenburgischem Weinbanausen die Welt des Weißweins zu eröffnen. Genau in diesem Augenblick ist dieses Foto entstanden. Wenn ich für all die Welten, die Erich für mich, meine Freunde und Mitmusiker eröffnet hat, ein Foto gemacht hätte, bräuchte es ein sehr dickes Fotoalbum.

Erich war einer, der sich für Gespräche Zeit nahm. Waches Zuhören, Beobachten und Systematisieren führten zu seinem klaren und lebendigen Erzählen. Die Momente, in denen ich an ihn denke, sind über die Zeit weniger geworden. Unvergessen sind aber für mich seine betriebene Horizontweitung über die engen Grenzen jener DDR-Zeit und darüber hinaus.

Wissenschaftler und Brückenbauer
In den frühen 1980er Jahren blühte eine leidenschaftliche DDR-Folk-Revival-Szene. Die Liedersammlung von Wolfgang Steinitz („Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“) wurde zum Objekt der Verehrung, Materialfundus und Quelle für viele Folkies. Diesem legendären Wolfgang Steinitz stand als wissenschaftlicher Assistent Erich Stockmann zur Seite. Erich kam zur Leipziger Folk-Werkstatt Anfang der 1980er Jahre als Beobachter und machte natürlich großen Eindruck auf uns. Seine wissenschaftlichen Reputationen hätten sicher auch Barrieren sein und Distanzen schaffen können. Das Gegenteil war der Fall.

Eine der herausragenden Fähigkeiten von Erich Stockmann war sein Gespür fürs Brückenbauen. Er „hofierte“ uns als empirische Anwender der „Steinitzschen Erkenntnisse“. Lobte unser Tun, den musikalischen Tatendrang und die Lust am Entdecken. Zwangsläufig ergaben sich daraus Treffen. Mal in seinem Studierzimmer, in seiner Bibliothek oder bei unseren Konzerten oder Folktanz-Veranstaltungen. Er lud uns auch als Gäste zu wissenschaftlichen Foren und Kongressen ein. Öffnete Schritt für Schritt Türen und gab Denkanstöße. Die Profiteure waren in erster Linie wir jungen Folkies. Erich bestand aber stets darauf, wie wichtig wir für ihn waren, mit unserem Suchen und Tun. All das unter den Umständen der DDR in den 1980er Jahren.

Experte für Volksmusikinstrumente
Erich hatte Kontakte in die weite Welt und er vermittelte sie handverlesen und immer auf die spezielle Wirkung für das DDR-Folkrevival bedacht. Als Spezialist für Volksmusikinstrumente kannte er die „richtigen“ Leute, die dem DDR Bordun-Instrumenten-Revival fundamentale Erkenntnisse eröffnen konnten. Das war ein Segen, denn wir hatten quasi von Null begonnen, abgeschnitten vom westeuropäischen Bordun-Revival und nahezu ohne Vergleichsinstrumente und Musiken. Neben der Kontaktanbahnung hatte Erich aber auch klare Ansagen: „Wenn ihr diese Instrumente einsetzen wollt, dann müsst ihr die selber bauen. Übrigens eine bewährte volksmusikalische Praxis.“

Über seine Connection lernten wir zum Beispiel ungarische Instrumentenbauer kennen. Experten im Bau von Dudelsäcken, Tischzithern, Hackbrettern und Drehleiern. Musikalisch waren wir zwar mit den Ungarn sehr weit auseinander, aber die dortige urbane Tanzhausbewegung haute uns total aus den Socken. Táncház war nicht nur der Ort, sondern auch eine Methode. Erich brachte uns mit den führenden Táncház-Protagonisten und -Archetypen zusammen. Unter anderem wurde daraus, zurück in Berlin, JAMS-Tanzhaus.

Aus den damaligen Folkrevival-Epizentren, die uns wegen der Grenze verschlossen waren, vermittelte Erich für uns wichtige Personen. Er organisierte die Kontakte und die Einladung in die DDR. So kam zum Beispiel Hubert Boone aus Brüssel als damals extrem erfahrener Sackpfeifen-Spezialist 1988 zum Dudelsack-Treffen nach Schleife. Für uns Dudelsackinteressierte wahrlich ein Meilenstein. Oder der Schwede Owe Ronström, Musikwissenschaftler, Instrumentalvirtuose und Netzwerker, öffnete uns die große weite Welt des skandinavischen Folkrevivals mit ganz unterschiedlichen Facetten.

Anreger von Radiosendungen
Mich persönlich motivierte Erich zu einer thematischen Rundfunksendung über Handzuginstrumente. Daraus reifte ich zum Musikjournalisten, mit weit über 300 Rundfunksendungen und Musikfeatures zu Folk aus aller Welt und Weltmusik. Er war dabei stets mein schärfster Kritiker. Bei vielem, was zu diesen Themen von mir bearbeitet wurde, bat ich Erich um sein fachliches Lektorat. Es war immer eine Freude, mit ihm zu arbeiten.

Pazifist aus Überzeugung
Unsere Freundschaft beruhte nicht nur auf unserem gemeinsamen fachlichen Interesse. Er war ein lebenserfahrener Mann mit klaren Prinzipien. Die vertrat er vehement. Ganz wichtig, sein Pazifismus! Die Zeit und Umstände wollten es, dass er als blutjunger Seekadett dazu bestimmt war, auf dem Schlachtschiff Bismarck in den Tod zu fahren. Das Schicksal meinte es noch mal gut mit ihm und brachte drei Tage vor der Versenkung der „Bismarck“ den Befehl: Alle unter 18 Jahre übersetzen auf den Schweren Kreuzer „Prinz Eugen“! Das war die Rettung. Denn der später als „der glückliche Prinz“ bezeichnete Kreuzer ist als einziges Großkampfschiff der Kriegsmarine zu Kriegszeiten nicht versenkt worden. Als Erich im Mai 1945 in Kopenhagen in dänische Kriegsgefangenschaft geht, weiß er, dass er für den Rest seines Lebens ein Pazifist sein wird.

Ein streichholzschachtelgroßes Bild der „Prinz Eugen“ hing in Erichs Arbeitszimmer, neben den Bildern von seinen Forschungsreisen, Musikinstrumentenzeichnungen und Portraits berühmter Musikethnologen und Volkskundler. Es war kaum zu erkennen, aber immer ein Fingerzeig, wenn er sein pazifistisches Anliegen vertrat. Heute hängt dieses kleine Bild mit der großen Bedeutung bei mir im Arbeitszimmer. Neben einer JAMS-Tanzhaus-Originalzeichnung von Jürgen Wolff, diversen Bandfotos und einem Bild von meinem alten Freund Erich hinter einem Weißweinglas.

Jo Meyer, November 2023

„Erinnerungen an Erich Stockmann - Nachruf für einen der bedeutendsten Musikethnologen unserer Zeit“ auf der folkworld-Website, Quelle: Manuskript der Sendung vom 23.11.2003, 21.50 Uhr im DeutschlandRadio Berlin

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