Fakten über "Folkhauptstadt" Leipzig | 02.03.22

„Der Nabel unserer folkloristischen Welt war Leipzig“, sagte der Berliner Folkmusiker Jo Meyer und meinte damit die frühen 80er Jahre. Was prädestinierte die Stadt als „DDR-Folkhauptstadt“? Worin drückte sich diese Rolle aus? Und wie kam es dazu? - Darüber sprachen am 2. März auf Einladung des Leipziger Geschichtsvereins der Szenechronist und Buchautor Wolfgang Leyn sowie der Musiker und Zeitzeuge Jürgen B. Wolff. Bereichert wurde der Abend in der gut besuchten Leipziger Stadtbibliothek durch Live-Musik sowie die Ausstellung "1976 folkende - die Folkszene in der DDR". Hier finden Sie eine kurze Zusammenfassung des Vortrags über die Folkhauptstadt Leipzig.

Straßentanz in Leipzigs Innenstadt, 80er Jahre (Foto: Archiv Folkklub Leipzig)

Geburtsstunde
Die DDR-Folkszene konstituierte sich Ende Oktober 1976 in Leipzig während der ersten landesweiten Werkstatt, zu der die Gruppe Folkländer zehn Bands und mehrere Solisten eingeladen hatte. In der Folge entstand 1977 das basisdemokratische Folklore-Initiativkomitee, das aber nach einem Vierteljahr wieder aufgelöst werden musste. Mitte der 80er Jahre gehörten bis zu 120 Bands zur damals schon sehr heterogenen Szene. Sie hatte drei Hochburgen: Leipzig, Berlin und Erfurt, in dieser Rangfolge.

Landesweite Werkstätten

Werkstatt-Plakat, gestaltet von Jürgen B. Wolff

Bis 1989 wurden neun landesweite Musikfolklore-Werkstätten veranstaltet, sechs davon in Leipzig. Gruppen aus allen 15 DDR-Bezirken nahmen teil. Die Werkstätten waren Probierstube, Erfahrungsbörse, Familientreffen und Stimmungsbarometer der Szene. Wichtiger Motor bei den Werkstätten von 1980-84 war die Gruppe Folkländer unter Leitung von Jürgen B. Wolff. Neben Wacholder in Cottbus, Liedehrlich in Gera, Horch in Halle oder JAMS in Berlin gehörte sie bald zu den wichtigsten Folkbands des Landes. 1981 durfte sie als erste eine eigene Langspielplatte beim Staatslabel AMIGA einspielen.

Folkländer war Vorreiter bei fast allen wichtigen Entwicklungen in der Szene – der Volksliedforschung, der Erarbeitung von Liederheften, beim Volkstanz zum Mitmachen, bei der Herausgabe des „Leipziger Folksblatts“ als Sprachrohr der Szene, bei der Gründung eines Folkklubs. In den Händen von Folkländer lag auch die Einstudierung des Singspiels „Die Boten des Todes“ während der Folkwerkstatt von 1982, das aber nicht öffentlich aufgeführt werden durfte.

Zentrale DDR-Kultureinrichtungen
In Leipzig hatte das Zentralhaus für Kulturarbeit seinen Sitz. Es war dem DDR-Kulturministerium unterstellt und betreute alle Bereiche des sogenannten künstlerischen Volksschaffens, war zuständig für Fördertopf und Gängelband. Zum künstlerischen Volksschaffen zählte auch die Folkszene, amtlich „Musikfolklorebewegung“. In Leipzig war außerdem das DDR-Tanzarchiv untergebracht, das zur Akademie der Künste gehörte.

Viele Folkbands
In Leipzig existierten 1984 mehr als ein Dutzend Folkbands, so viele wie in keiner anderen DDR-Stadt. 1989 waren es sogar 18 Bands. Acht von ihnen sind bis heute aktiv. 100 Musiker, Tänzer und ihre Freunde engagierten sich im Folkklub Leipzig. Folkklubs nach Leipziger Vorbild entstanden bis 1990 auch in Berlin, Hoyerswerda, Ilmenau und Schwerin. In Jena scheiterte das an der fehlenden Zustimmung der Behörden.

Leipziger Bands mit Gründungsjahr
1976 Folkländer -> seit 2020 wieder aktiv
1980 Kreuz & Square, Zenzi, Zerrwanst -> noch heute aktiv
1981 Heureka, Tonkrug -> Fiddle Folk Family
1982 Folkländers Bierfiedler, Vergißmeinnicht Wurzen -> noch heute aktiv
1983 Fiedolin (ab 1986 Ioculatores), Gut G’sell, Kuhfladen, Tanz & Spring Band, Frisch gepresst/Wimmerschinken -> Häppy Hour
1984 Dr. B. Balsams Folk Kapelle, Findlinge, Leipzig Morris, Dieters Frohe Zukunft, Schwedenquell (später Swedenquell) -> noch heute aktiv
1985 Exit (später Reel Feelings -> Brandan -> Giddy up), Haus und Hof Kapelle, Lumich
1986 Duo Sonnenschirm (Dresden/Leipzig) -> noch heute aktiv, Ko & Co (Cottbus/Leipzig)
1987 Tee Na Na
1988 Jens-Paul Wollenberg und Band -> noch heute aktiv

Volkstanzschule und Festivals

Urkunden für die Tanzschul-Absolventen (Gestaltung: Gabi Lattke)

In Leipzig wurde 1983 die einzige Volkstanzschule der DDR gegründet. Deren Kurse absolvierten innerhalb der nächsten 20 Jahre mehr als 1.300 Tänzerinnen und Tänzer. 1986 hatte das internationale Leipziger Tanzhausfest Premiere. Organisiert wurde es vom Folkklub Leipzig unter Leitung von Ulrich Doberenz. Bis heute findet dieses Festival jedes Jahr zu Himmelfahrt statt, sofern die Corona-Krise dies nicht verhindert.

Von 1990 bis 2000 gab es in der Leipziger Innenstadt internationale Straßenmusikfestivals. Auch die „Liederflut“ in Grimma oder „Folkus“ in Freyburg/Unstrut bzw. jetzt in Naunhof wurden oder werden von Teams aus Leipzig organisiert.

Tragende Rolle in Rudolstadt
Leipziger hatten und haben seit 1991 wichtige Funktionen bei Deutschlands größtem Festival für Lied, Folk und Weltmusik in Rudolstadt – Ulrich Doberenz als Direktor von 1991-2018, gefolgt von Simone Dake, Peter Uhlmann als langjähriger Büroleiter, Jürgen B. Wolff als Gestaltungs-Chef. Nicht zu vergessen Thomas Hauf in der Technischen Produktionsleitung oder Peter Eichler von MDR KULTUR als langjähriger Koordinator der ARD-Mitschnitte vom Festival.

Print, Funk, Label, Web
Das Leipziger „Folksblatt“ fusionierte 1997 mit dem in Bonn erscheinenden „Folk-Michel“ zum Fachmagazin „Folker“. Zu dessen ständigen Mitarbeitern gehört Grit Friedrich, Weltmusik-Redakteurin bei MDR KULTUR. 1990 wurde in der Stadt das Label „Löwenzahn“ gegründet, mit der Spezialstrecke Lied, Folk und Weltmusik. Zwei der drei Bücher über die DDR-Folkszene wurden in Leipzig geschrieben. Und hier sitzt auch die Redaktion der Ostfolk-Website.

Hier gibt's Bilder aus der Folkhauptstadt:

Folk-Session mit Musikern aus Berlin und Leipzig im Studentenklub "Grafikkeller" zu Folkländers 2. Band-Geburtstag im Januar 1978. Vierter von links: Wolfgang Leyn, daneben (mit Gitarre) Jürgen B. Wolff.
(Foto: Harald Mohr)

Wie in Leipzig die DDR-Folkszene begann | MDR KULTUR | 19.08.21