Erst tanzte niemand, aber dann… | 08.10.21

Um den „Folkstanz“ geht es in der aktuellen Folge von „Ostfolk im Gespräch“. Sigrid Römer aus Leipzig erzählt über ihre Erfahrungen als Tanzmeisterin, über die 1980 gegründete Tanzgruppe „Kreuz & Square“, über Festivals mit 1 000 Tänzern. Hier zur Ergänzung des Gesprächs einige Fakten und Zahlen – und dazu historische Fotos.

Folkländer mit Tanzgruppe Kreuz & Square 1980, ganz links mit Mikrofon: Tanzmeisterin Sigrid Lembke (heute Römer), Foto: Stefan Gööck

Die DDR-Folkszene war zu Beginn eine reine Liedbewegung. Mit Irish Folk ging’s los Mitte der 1970er, ähnlich wie ein paar Jahre früher auch in der Bundesrepublik. Jigs, Reels und Hornpipes wurden gern als „Nachtänze“ an die Songs rangehängt, die man von Schallplatten der Sands Family, der Dubliners oder anderer irischer Bands runtergehört hatte.

Getanzt haben dazu bei den Folkfestivals dieser Zeit aber nur die Kinder. Ihre Eltern wippten mit den Füßen. Mehr nicht. Auch nicht, als dann deftige Lieder deutscher Handwerksgesellen, Soldatenklagen, Auswandererlieder, Kampf- und Spottlieder aus der Zeit vor der Revolution von 1848 mehr und mehr das Repertoire der Bands bestimmten.

Nach zaghaften Anfängen boomt der Folkstanz

Der Volkstanz führte in der DDR-Folkszene ein Schattendasein. Das blieb so bis Pfingsten 1979. Dann nämlich wurde in Berlin erstmals der Mitmach-Volkstanz ausprobiert, am Rande eines Festivals der Staatsjugendorganisation FDJ. Drei Folkbands spielten auf: Folkländer aus Leipzig, Brummtopf aus Erfurt und JAMS aus Berlin. Getanzt wurde erstmal nur zweierlei: Hacke-Spitze-Polka und Square Dance (eigentlich ein Longway, wies sich später herausstellte).

Plakat von Gabi Lattke (1981)

Ab 1980 avancierte der „Folkstanz“ dann innerhalb kürzester Zeit zur Hauptattraktion der ostdeutschen Szene, füllte bald Säle mit bis zu tausend jugendlichen Tänzern. Gäste aus der bundesdeutschen Folk-Szene staunten. Das kannten sie von zu Hause nicht. Was bis dahin als „Trachtenballett“ auf der Bühne kaum jugendliches Publikum angelockt hatte, erwies sich nun auf dem Tanzboden als massentaugliches Freizeitvergnügen.

Von den Ungarn haben wir‘s gelernt

Nach dem Vorbild der ungarischen Tanzhaus-Bewegung gehörten dazu Live-Musik, ein Tanzmeister, der die Schritte erklärte, und mehrere Tanzpaare, die sie vorführten. 1980 gründeten Freunde von Folkländer die Gruppe Kreuz & Square. Es war die erste Tanzgruppe der DDR-Folkszene. Als Tanzmeisterin fungierte die damalige Choreografie-Studentin Sigrid Lembke (heute Sigrid Römer). Während der 2. Zentralen Musikfolklore-Werkstatt im Januar 1981 in Leipzig war der Volkstanz zum Mitmachen zentrales Thema.

Bald entstanden in Leipzig weitere Tanzgruppen, ebenso in Halle, Berlin, Mittweida, Plauen, Erfurt, Wismar, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Potsdam; Görlitz, Jena, Ilmenau. 1984 waren zwischen Ostsee und Erzgebirge mindestens 16 Tanzgruppen aktiv, bis 1989 verdoppelte sich ihre Zahl. Jährlicher Höhepunkt war ab 1986 das vom Folkklub Leipzig organisierte internationale Tanzhausfest. Internationale Stars wie Groupa aus Schweden oder die Oyster Band aus England gastierten bei diesem Festival. Schon 1984 hatte in Leipzig die einzige Volkstanzschule der DDR den Unterrichtsbetrieb aufgenommen. Bis 2004 absolvierten rund 1.300 Tänzerinnen und Tänzer deren Kurse. Ein Tanzkleid von damals gehörte in diesem Jahr zu den Exponaten der Sonderausstellung "Kennzeichen L" im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig.

Fröhliches Tanzen anstelle doppelbödiger Lieder

Nicht alle Folkbands spielten zum Tanz. Wacholder aus Cottbus zum Beispiel, Liedehrlich aus Gera, Horch aus Halle oder das Duo Piatkowski & Rieck aus Rostock taten es nicht. Es gab auch Stimmen, die den Schwenk der Szene, weg von den doppelbödigen Volksliedern mit ihrem gesellschaftskritischen Potential, hin zur unpolitischen Fröhlichkeit der Volkstanzabende nicht guthießen.

Von heute her gesehen muss man wohl von einem Glücksfall sprechen, denn die reine Liedbewegung der Anfangszeit hätte ein Andocken ans DDR-Tanzfest in Rudolstadt nicht zugelassen. Ob dann dort das Folkfestival hätte entstehen können, das heute das größte und wichtigste seiner Art in Deutschland ist? Wer weiß…

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