Am 2. Juli erschien Bernhard Hannekens Buch auf ostfolk.de begleitet von der Rezension der Musikjournalistin Hanni Bode, einer Zeitzeugin. – Aus der Perspektive einer Nachgeborenen las es die Liederschaffende und Autorin Peggy Luck.
Ein umfangreiches Werk von fast 500 Seiten ist es geworden, in dem sich Hanneken mit dem Wiederaufflammen des (gemeinsamen) Musizierens traditioneller Lieder in den 70er und 80er Jahren befasst. Als erstes Buch, das sich dieser Thematik widmet, bezieht es dabei beide Deutschlands ein.
Vorab sei deutlich gesagt: Dieses Buch ist eine Sammlung von unschätzbarem Wert, kenntnisreich, gut vernetzt, unterhaltsam und spannender als ein Krimi für alle Menschen, die dem folkloristischen Wildwuchs am Wegrand der Musikindustrie nicht mit Unkrautvernichter zuleibe rücken.
Zitatreichtum – Stärke und Schwäche des Buches
Allerdings: Vorsicht mit den Wurzeln – wir sind in Deutschland. Schon der Titel ruft den zerrissenen Heimatkritiker auf den Plan: DEUTSCH-Folk? Was soll das denn sein? VOLKSlied? Ist das sowas wie Volksmusik? Aber warum dann mit F? Hanneken kreist diese Fragen vielstimmig und geduldig ein, von Kapitel "Weimar 1778" über "Hoher Meißner 1913", "Leipzig 1977" bis "Dortmund 2009". Jeweils von einem dieser Kristallisationspunkte ausgehend entfaltet er Musiken und Musizierende, Lieder, Zusammenhänge, Widersprüche, Mediales und vor allem: Zitate, Zitate, Zitate.
Diese Zitate bilden einerseits die große Stärke des Buches – man bekommt nie das Gefühl, der glattgebügelten Geschichte eines allwissenden Autors zu unterliegen – andererseits kommt es nicht selten vor, dass man sich am Anfang eines Zitates fragt, wer eigentlich spricht, und zum Ende springt, und wieder zurück, oder andersherum. Hanneken fügt nur selten Jahreszahlen ein, ebenso selten erfährt die Leserin, in welchem Rahmen das Zitat geschrieben oder in ein Mikrofon gesprochen wurde. Dazu muss man auf Seite 479 zu den Textquellen springen. Wo meine innere Wissenschaftlerin die Stirn runzelt, zuckt die wissbegierige Folkloristin die Schultern und schmeißt sich in die Lektüre.
Und die ist prallgefüllt mit Leben: Mit Liedern, Protest, Zank und Zwist, Bildern der Protagonisten (und der wenigen Protagonistinnen) und Platten. Mehr Einblick in die gesellschaftliche und kulturelle Stimmung beider halben Deutschlands habe ich selten bekommen. Hanneken schreitet die Grenze zwischen Folk, Folklore und volkstümlicher Musik genauso gewissenhaft ab wie die Grenze zwischen Arbeiterlied, Singebewegung und Folk – er zerlegt das Phänomen kritisch in seine Einzelteile, um es am Ende wieder zusammenzufügen.
Hanneken – ein Besserwessi?
Wenn ein Westler über eine gesamtdeutsche Szene schreibt, herrscht ostseits gemeinhin Skepsis: Ein "Besserwessi", der erklären will, wie alles zusammenhängt? Hanneken löst diese Frage elegant, indem er in den Ost-Kapiteln diejenigen ausführlich zu Wort kommen lässt, die nicht nur nah dran, sondern mittendrin waren. Auf mich als spätgeborene Ostpflanze (*1990) wirkt das Buch insgesamt ausgewogen. Es spart nicht die Schwierigkeiten der West-Folkies und Liedermacher aus (vgl. Kapitel Günzlhofen 1979 – Eine Zensur findet – statt) und gibt Überlegungen Raum, woher die seltsam familiäre Atmosphäre der Ost-Folkszene rührte (vgl. Kapitel Leipzig 1977).
Dass die DDR an ihrer großzügigen Kulturförderung pleitegegangen sei, wie Hanneken behauptet, halte ich für eine mindestens gewagte, angesichts aktueller Verhältnisse nahezu gefährliche These. Solche geistigen Blitzeinschläge bilden jedoch die Ausnahme in dem aufwändig recherchierten, reichhaltigen Werk.
Enger Politik-Begriff, Internet unterschätzt
Als folkbegeisterte Klimaaktivistin ist für mich besonders spannend, welche inhaltlichen Protestlinien sich durchziehen. Umweltthemen waren besonders in der West-Folkszene wichtig. Bedauerlich daher Hannekens Fazit: Der Folk sei nicht verschwunden, jedoch "auf kleinerer Flamme, nicht mehr so politisiert [...], dafür mit einem Hang zur Melancholie sowie auf höherem musikalischen Niveau."
Diese Beobachtungen erscheinen mir treffend, zeugen jedoch von einem Politik-Begriff, der angesichts des notwendigen gesellschaftlichen Umbaus zur Nachhaltigkeit zu eng werden könnte. Regionale, potentiell stromlose/akustische Musik wie der Folk bildet die zukunftsfähige Bio-Alternative zu Spotify: Nicht die große Weltrevolution, aber immerhin das selbstgezüchtete Gurkenbeet.
Die im Neofolk oder der Mittelalterszene verbreiteten Mythenstoffe, "Elfen und Trolle, [...] Geister, Zwerge und Riesen" behandelt Hanneken als Wesen einer ihm schwer nachvollziehbaren Mittelalter-Sehnsucht ("unerträgliche hygienische Zustände, Armut und Hunger"). Sie sind aber auch Relikte einer prä-industriellen Welt, in der nicht nur das Messbare, sondern ebenso das Unsichtbare seinen Platz fand.
Apropos unsichtbar: Das Titel-Design, das den ersten und letzten Buchstaben von "Deutschfolk" teilweise abschneidet, verlieh dem Buch beim ersten Auspacken den liebevollen Spitznamen "eutschfoll". Ansonsten ist das Layout weitgehend augenfreundlich. Die Papierqualität hält auch Ungeschicktheiten stand, wie die Rezensentin unfreiwillig mithilfe eines Getränks und eines Wischlappens testete.
Hannekens Ausführungen zum Internet sind unvollständig. Es gibt einiges, was das Netz als Nährboden für Folk und Punk qualifiziert – Shanty-Trends auf TikTok, DeutschFolk-Onlinesessions und Musizieren über lange Distanzen – aber es muss ja auch für meine Generation etwas zu tun übrig bleiben.
Insgesamt: Klare Lese-Empfehlung, astreine musikalisch-gesellschaftliche Fortbildung.
Bibliografische Angaben:
Bernhard Hanneken: Deutschfolk. Das Volksliedrevival in der BRDDR
Herausgeber: Stadt Rudolstadt, Gebundene Ausgabe
520 Seiten, 276 Fotos und Dokumente, Lesebändchen
ISBN 978-3-9819781-3-1, Preis: 39 €
Der Soundtrack zum Buch: Musikalische Zeitreise durchs Folkrevival