VON WOLFGANG LEYN (Text und Fotos)
Das Festival fand am Ursprungsort von Deutschlands umfangreichster Tanznotensammlung der Barockzeit statt. Veranstaltet wurde es von der DeutschFolk-Initative unter dem Dach von PROFOLK gemeinsam mit der Dahlhoff-Gesellschaft in Dinker. Wer dabei war, erlebte ein frühherbstliches Wochenende in ländlicher Umgebung, das vollgepackt war mit Konzerten, Sessions und Workshops. Dazu Wiedersehensfreude und Erkenntnisgewinn, Ohrenschmaus und Tanzvergnügen. Schauplatz der Abschluss-Matinee am Sonntag war die Dorfkirche.
Zum Artikel über das Festival
An der evangelischen Dorfkirche St. Othmar in Dinker (früher Kirchdinker) wirkte vom Ende des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Küster-Familie Dahlhoff: Goswin (1670–1734), Johann Heinrich (1704–1764) und Johann Diedrich (1735–1804). Sie trugen rund 800 Tanzmelodien der Barockzeit aus Westfalen zusammen. 2012 wurde die Sammlung Dahlhoff in der Berliner Staatsbibliothek wiederentdeckt.
Der heutige Kirchplatz war bis 1831 der Friedhof von Dinker. Hier lag wohl auch das Grab von Johann Diedrich Dahlhoff. Daran erinnert die provisorische Gedenktafel an der Kirchenmauer. Angebracht wurde sie von der Dahlhoff-Gesellschaft. Diese wurde 2019 gegründet. Musiker von Dahlhoff – die Band aus Hannover und Ortsansässige wollen das bedeutende Tanzmusikerbe noch bekannter machen. Das Deutschfolk-Festival 2024 war ihr bisher größtes Projekt.
Hauptspielort des 4. Deutschfolk-Festivals war das Tanzzelt in Dinkers Nachbarort Welver, neben dem dortigen Heimathaus. Zur Eröffnung musizierte das Pipenbock Orchester (im Bild zu sehen ist nur ein Teil davon). Gegründet wurde der ungewöhnliche Klangkörper vor über einem Jahrzehnt in Schwerin von Ralf Gehler. Ihm gehören rund 20 Dudelsackspieler aus ganz Deutschland an. Auf Schäferpfeifen, Säckpipas und Hümmelchen spielen sie traditionelle Stücke und Neukompositionen.
Erledanz nennen Henrike und Klaus Eckhardt aus Ansbach in Franken ihr Duo. Ihr Repertoire besteht vor allem aus traditioneller Musik der saarländisch-lothringischen Grenzregion. Aber auch Tanzmelodien aus der Dahlhoff-Sammlung gehören dazu. Beeindruckt haben mich Henrikes virtuoses Flötenspiel und Klaus‘ wunderbar schlichter Gesang. Am Rande bemerkt: Henrike gestaltete auch das Plakat und das Programmheft des Festivals.
Altami aus Hannover spielt traditionelle Musik aus alten Quellen im deutschsprachigen Raum, auf Schäferpfeife, Bratsche, Geige und Gitarre. Auch Lieder zum Mitsingen, etwa im westfälischen Platt kamen beim Festival in Dinker und Welver gut an. Der Bandname ist eine Abkürzung und steht für Alex Peters, Tanja Bott und Michael Möllers, quasi die Trio-Besetzung von Dahlhoff – die Band.
Nicht bei allen, doch bei den allermeisten Konzerten dieses 4. Deutschfolk-Festivals im westfälischen Dinker und Umgebung wurde auch eifrig getanzt. Einheimische und Zugereiste, Musiker und Musikliebhaber verschiedener Generationen vergnügten sich bei Schottisch, Mazurka, Walzer, Polonaise, Chapelloise oder Fröhlichem Kreis zu in die Beine gehender Livemusik. Eine Anleitung durch Tanzmeister oder Tanzmeisterin war nicht nötig.
Peggy Luck und Thomas Strauch aus Leipzig und Frankfurt/Oder sind das Duo Waldfisch. Sie zeigen, dass „liedhaft“ und „tanzbar“ keine Gegensätze sein müssen, ebenso wenig wie Traditionelles und Selbstgeschriebenes. Ich von ihnen gelernt, dass man zu Gerhard Gundermanns Evergreen „Immer wieder wächst das Gras“ Mazurka tanzen kann. Peggy und Thomas sind auch hinter der Bühne aktiv. Zum Beispiel in der DeutschFolk-Initiative und im Vorstand von PROFOLK.
Anges "Gasthof Witteborg" in Dinker war nicht nur wichtig für Speis und Trank. Am Freitag und am Sonnabend war das Lokal bis nach Mitternacht Anziehungspunkt für alle jene Festivalteilnehmer, die es lieben, gemeinsam zu musizieren. Bei der Jam-Session mit tanzbaren Melodien aus alten Quellen erklangen natürlich auch solche aus der Dahlhoff-Sammlung. Hier an der Geige Vivien Zeller aus Berlin, an der Drehleier Simon Wascher aus Wien.
Petrus meinte es gut mit dem vierten Deutschfolk-Festival in Westfalen. Bei herrlichem Frühherbstwetter ließen es sich etliche junge Musikanten nicht nehmen, am Klosterhof Welver unter freiem Himmel zusammen zu musizieren, nicht für Publikum von einer Bühne herab, sondern allein zum eigenen Vergnügen, jeder auf seinem Lieblingsinstrument. Das hätte den Dahlhoffs selig ganz gewiss gut gefallen.
Anges Gasthof in Dinker verfügt über einen schönen Garten. Der Folksänger Gunnar Wiegand aus dem niedersächsischen Salzhemmendorf fühlte sich dort ganz offensichtlich wohl. Als einer der Organisatoren kümmerte er sich bei diesem Deutschfolk-Festival um die Offene Bühne unter der Kastanie. Mir bleibt von diesem Wochenende in Dinker vor allem Gunnars Lied über die Schiffszieher an der Weser im Gedächtnis.
Zum zeitweise ziemlich eng getakteten Festivalprogramm gehörte auch eine Folk-For-Future-Wanderung mit der Leipziger Liedkünstlerin und Folkmusikerin Peggy Luck. Unterwegs war Gelegenheit zum Innehalten und zum Gedankenaustausch über das, was die verschiedenen Teilnehmer mit Folkmusik verbindet, auf welchem Wege sie dorthin fanden und was sie sich davon erhoffen.
Zu den musikalischen Höhepunkten bei diesem Deutschfolk-Festival gehörte für mich der Auftritt der All-Star-Band Viertour. Die „Nordhälfte“ des Quartetts besteht aus dem Schweriner Ralf Gehler und der Berlinerin Vivien Zeller. Beide musizieren schon seit Jahren in diversen Bands zusammen und sind in vielfacher Hinsicht aktiv bei der Erschließung alter Quellen für heutiges Musizieren, auf der Bühne, in Online-Portalen, als Musikpädagogen, als Festivalveranstalter.
Die „Südhälfte“ von Viertour bilden der Thüringer Nico Schneider und der Vogtländer Tim Liebert (von links), die auch als Duo Tradsch beim Festival spielten. Heimisches Liedgut, gern auch im Dialekt, hat es ihnen angetan. Virtuos auf vielen Instrumenten, von der Thüringer Waldzither bis zum (von Nico professionell selbstgebauten) Banjo, vermögen sie auch, Besucher binnen kurzem zum Mitsingen anzuregen, ganz ohne billige Anmache.
Sehr gefreut hatte ich mich auf Lottes Flausen, die Bartuschkasche Familienband aus Weimar, die ich erst einmal live erlebt hatte. Meine Erwartungen gingen voll auf. Was die vier da auf die Bühne zauberten an instrumentalem Zusammenspiel von Geige (Gesa), Klarinette (Mattea), Gitarre (Anett) und Blockflöten (Fabia) und mehrstimmigem Gesang, das war kunstvoll, wunderbar innig und zugewandt. Eine solche Musizierfreude erlebt man selten.
Bordunmusik mit leichtem Hang zum Speedfolk bot FIOR aus dem Stuttgarter Raum. Traditionelles, etwa aus der Dahlhoff-Sammlung, gehört ebenso zum Repertoire wie die Vertonung des Fontane-Gedichts vom kinderliebenden, Birnen schenkenden Gutsherrn aus dem Havelland. Regina Kunkel (Nyckelharpa), Sebastian Elsner (Drehleier), Rick Krüger (Sackpfeifen) und Björn Kaidel (Gitarre) spielten losgehende Tanzmusik, die auch als solche genutzt wurde.
„Warum wir die alten Quellen brauchen“, so hatte Michael Möllers von Dahlhoff – die Band seinen Vortrag überschrieben. Er gehört zu den Gründern und Aktivisten der Dahlhoff-Gesellschaft, die gemeinsam mit der DeutschFolk-Initiative und mehreren lokalen Vereinen das Festival ausrichtete. Wer Michael kennt, wusste, dass sein Vortrag alles andere als knochentrocken sein würde. Immer wieder erklang Musik, hier gemeinsam mit Jörg Fröse (rechts).
Die weiteste Anreise nach Dinker hatte der Drehleierspieler und Musikethnologe Simon Wascher aus Wien (rechts im Bild). Er hatte 2012 nach einem Hinweis Wolfgang Meyerings von Malbrook die Dahlhoff-Sammlung in der Berliner Staatbibliothek entdeckt. Auf Anregung der Greifswalder Harfenistin Merit Zloch legten dann 13 Folkmusiker Geld für die Digitalisierung der Tanznoten zusammen, die dadurch nun für alle Interessierten online zugänglich sind.
Die Abschluss-Matinee des 4. Deutschfolk-Festivals fand am Sonntag in der Dorfkirche von Dinker statt, dem einstigen Arbeitsplatz der Küster-, Organisten- und Lehrer-Dynastie Dahlhoff. Mit dabei waren die TradTöchter aus Berlin. Ursula Suchanek und Vivien Zeller überzeugten auf Geige und fünfsaitiger Bratsche ebenso wie als Sängerinnen. Beide gehören zu den besten Kennerinnen der „alten Quellen“, von denen Michael Möllers sprach.
Sozusagen als kleine Abordnung des Jugendfolkorchesters, das in diesem Jahr beim Rudolstadt-Festival seine Premiere erlebte, spielten und sangen beim sonntäglichen Ausklang in der Kirche Sophia aus Leipzig, Fabia aus Weimar und Alex aus Hannover (von links). Alexander Peters von Altami war außerdem als wortgewandter Moderator und Mitorganisator eine wichtige Person bei diesem Deutschfolk-Festival.
Dahlhoff – die Band aus Hannover mit Michael Möllers an der Spitze setzte die wichtigsten Akzente bei diesem vielfältigen, interessanten und familiären Deutschfolk-Festival im westfälischen Dinker und Umgebung. Mit Ideenreichtum, bewundernswertem Engagement und Organisationstalent trug sie zum Gelingen bei. Da war es dann einfach nur logisch, dass die Band am Sonntagnachmittag auch den musikalischen Schlusspunkt setzte.