Beim Workshop des Sorbischen Nationalensembles vom 24. bis 26. März in Bautzen erarbeiteten die elf Beteiligten Interpretationen für sieben Stücke aus dem Kralschen Geigenspielbuch von 1790, der ältesten sorbischen Notenhandschrift. Als Mentor wirkte souverän und einfühlsam der polnische Musikethnologe und Multiinstrumentalist Maciej Rychły. So gelang eine heutige, sehr persönliche Annäherung.
Autor: Wolfgang Leyn
Als am Sonntagabend der letzte Ton der Abschlusspräsentation verklang, lag hinter den Beteiligten am Workshop ein gutes Stück Arbeit - mit Betonung auf gut und auf Arbeit. Eingeladen hatte wie schon im Vorjahr das Sorbische Nationalensemble in Bautzen ins „LAB-F“, Laboratorium für sorbische traditionelle Musik. Die Teilnehmer kamen aus ganz unterschiedlichen Bereichen - Musiker vom Orchester des Nationalensembles, von der Folkband Serbska Reja, aus der Alten-Musik-Szene, vom Jazz-Gesang. Im Kreis auf der Bühne saßen drei Frauen und acht Männer, Sorben, Deutsche, Polen, eine Amerikanerin, im Alter etwa zwischen Anfang 30 und Anfang 70.
Bilder vom Workshop im Sorbischen Nationalensemble Bautzen (24.-26.03.23)
Keine historische Rekonstruktion war das Ziel, sondern eine aktuelle, sehr persönliche Annäherung. Mikławš Kral (1791-1812), aus dessen Nachlass das Geigenbuch stammt, spielte die große sorbische Geige wulke husle und Trompete. Keines der beiden Instrumente war in der Runde vertreten, stattdessen neben dem kleinen und dem großen sorbischen Dudelsack Geige, Bratsche, Cello, Nyckelharpa, Gitarre, Banjo, Mandola, diverse Block- und Querflöten, Perkussion und - Stimme als Instrument.
Wie schon beim ersten Mal im vorigen Jahr war dieser Workshop offen für alle, welche die sorbische Traditionen erforschen wollen, nicht auf wissenschaftliche, sondern auf künstlerische Weise. Auch das Geigenbuch selbst ist ja nicht von Sammlern, von Intellektuellen, zusammengestellt worden, sondern von Musikanten, die vor zwölf Generationen hier in der Lausitz gelebt haben.
Maciej Rychły
Beachtliche Ensemble-Leistung
Innerhalb von nur zwei Tagen brachte das Ad-hoc-Ensemble Erstaunliches zuwege. Musikerinnen und Musiker, die sich zum großen Teil vorher noch nicht kannten, brachten sieben Stücke aus dem Kralschen Geigenspielbuch zum Klingen. Dass das so gelang, ist zuallererst das Verdienst der beiden Mentoren. Wie schon 2022 leitete der Musikethnologe und Multiinstrumentalist Maciej Rychły aus Poznań den Workshop. Unterstützt von seinem Sohn Mateusz erarbeitete er mit den Teilnehmern aufgrund ihrer Vorschläge Arrangement, Dynamik, Phrasierung der einzelnen Stücke. Er tat es mit natürlicher Autorität, überzeugend, einfühlsam. Zustande kam der Kontakt zu ihm durch die langjährige Bekanntschaft mit Tomasz Nawka, dem Leiter der sorbischen Folkloregruppe „Sprjewjan“ aus Bautzen.
Wer dabei war, konnte eine beachtliche Ensemble-Leistung erleben, aus der für mich zwei Musiker herausragten - Maciej Rychły an verschiedenen Flöten und Walburga Walde mit ihrer Stimme. Wer den Workshop verpasst hat, bekommt im nächsten Jahr eine neue Chance, wenn das Sorbische Nationalensemble zum „LAB-F“ Nr. 3 einlädt. Das Sorbische Nationalensemble widmet sich seiner Gründung 1952 in erster Linie der professionellen Bühnendarbietung sorbischer Musikfolklore. Das tut es natürlich weiterhin. Doch mit den Workshops wird zugleich ein neuer Weg beschritten, hin zu den ältesten musikalischen Quellen der Sorben und hin in eine größere Öffentlichkeit.
Notenhandschrift von 1790 wird neu herausgegeben
Ein großer Teil des heute bekannten sorbischen Volksliedrepertoires stammt aus der Sammlung, die Ende der 1830er Jahre Jan Arnošt Smoler gemeinsam mit Joachim Leopold Haupt und Handrij Zejler zusammengetragen hatte („Die Volkslieder der Wenden in der Ober- und Nieder-Lausitz“). Die Lieder und Volksweisen im „Kralschen Geigenspielbuch“ sind rund 50 Jahre älter. Diese handschriftliche Notensammlung enthält insgesamt 99 sorbische und 27 deutsche Volkslieder, 44 sorbische Tanzlieder und 12 Hochzeitslieder und Melodien.
Seit 1983 liegt sie als fotomechanischer Erstdruck vor, der aber nur noch antiquarisch zu haben ist. Auf Initiative des Ensembles wurden die Melodien mittlerweile zum allergrößten Teil transkribiert. Schwierigkeiten machen die Liedtexte, die erst rekonstruiert und ins heutige Sorbisch übertragen werden müssten. Wenn auch das geschafft sei, könnte die Sammlung neu herausgegeben werden, erklärt mir der Intendant des Nationalensembles Tomas Kreibich-Nawka. Für den Workshop Ende März in Bautzen war das aber unerheblich, da ging es allein um die Musik. Das galt auch für den kurzfristig ins Programm aufgenommenen Tanzabend mit der Folkband Serbska Reja.
Früherer Artikel zum Thema:
Workshop zur sorbischen Folklore in Bautzen - nicht in Cottbus! | 06.03.23
Hörbeispiele:
„Zeschli lubka moja bucz“, Kralsches Geigenspielbuch, gespielt von Serbska Reja (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=GsUobiNVvB4
„Jelängerjelieber“, Kralsches Geigenspielbuch, Nr. 59, gespielt von Barnaby Walters aus England auf der Drehleier (2017)
https://www.youtube.com/watch?v=LMg7mDRKjCk
„Churfürst zu Sachsen, König von Polen“, deutsches Volkslied, Kralsches Geigenspielbuch, gespielt von Kristina Künzel auf dem Markt-Dudelsack (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=ssPAE1U9kWg
"Poicže moje holcžki schitke kemni" ("Kommt meine Mädels alle zu mir"), Kralsches Geigenspielbuch, Nr. 75, gespielt von Ralf Gehler auf der Schäferpfeife (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=pWTV_6dauuw
„Ribach“, sorbisches Tanzlied, Kralsches Geigenspielbuch, Nr. 22, gespielt von Matthias Branschke auf der Säckpipa (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=KbCulZa24vc
Wendische Täntze (die Unaussprechlichen), Kralsches Geigenspielbuch, Nr. 20 und Nr. 18, gespielt von Kristina Künzel auf der Schäferpfeife (2016)
https://www.youtube.com/watch?v=fN0fukCNd_I
„Ach ty leßne riane lubo moj, kaiki ßy ty jara schikowany”, Kralsches Geigenspielbuch, Nr. 39, gespielt von Björn Kaidel auf der Nyckelharpa (2017)
https://www.youtube.com/watch?v=JzsQ8566ZNI
Mehr über historische Tanzmusikquellen:
http://tanzmusikarchiv.de/